Expert Talk

Expert Talk 7: Jörg Zwicker

18.11.2025

Dirigieren durch spannungsgeladene Zeiten

Wir leben heute in einer veränderten Welt. Die „neue Realität“ führt uns vor Augen, was meine Generation nicht für möglich gehalten hätte: nach 80 Jahren Frieden werden wir unmittelbar von immer mehr militärischen Konflikten bedroht.

Als Musiker genießt man das Privileg, auf der ganzen Welt „grenzenlos“ unterwegs sein zu dürfen. Das gemeinsame Musizieren kennt keine politischen, geografischen, religiösen oder ideologischen Grenzen. Wir sind alle gleich.

Die beiden Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten haben dieses Denken jedoch ins Wanken gebracht: interkulturelle Unterschiede werden zunehmend thematisiert, Kultur als Identität wahrgenommen und instrumentalisiert. Kann/darf ich als Musiker, als Mensch, aber auch als Mediator*in in solchen Konflikten noch „neutral“ sein?

Neben der humanitären Katastrophe und wirtschaftlichen Folgen durch Kriege haben diese auch großen Einfluss auf die Gesellschaften weit weg von der Front.

Sie führen zu unzähligen Konflikten innerhalb der Bevölkerung betroffener Länder, aber auch bis in die Wohnzimmer im noch friedlichen Europa. Die Sorgen um Sicherheit und eigenen Wohlstandverlust lassen auch hier Konflikte innerhalb von Familien und Gemeinschaften entstehen. Social Media wird zunehmend zu einem Feld, auf welchem „Stellvertreter-Kriege“ verbal und unverblümt geführt werden und somit Spaltung und Hass vorantreiben.

In meinem „ExpertsTalk“ berichte ich von meinen Erfahrungen und Konflikt-Beobachtungen mit unterschiedlichen Kulturen im Spannungsfeld von Kriegen, speziell am Beispiel der Ukraine.

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Zusammenfassung

Das Gespräch führte Mag.art. Dr.rer.nat. Tomaš Klimann, BSc MSc , Psychologe mit Schwerpunkt Arbeits- und Organisationspsychologie, Verhandlungsforscher, Schauspieler, Lecturer am Zentrum für Soziale Kompetenz | Universität Graz und Mitglied des Mediationsinstituts.

1. Persönlicher Einstieg und Kontext

Jörg Zwicker berichtet von seiner langjährigen Verbindung zur Ukraine, die bereits vor 2022 begann. Er war regelmäßig beruflich in Kiew tätig, leitete dort Musikprojekte und erlebte die Eskalation des Krieges 2022 unmittelbar, inklusive Evakuierungen, Fluchterfahrungen seiner Freunde und der anhaltenden Belastung der Bevölkerung. Er schildert, dass er seine Informationen nicht aus Medien bezieht, sondern direkt von den betroffenen Menschen – was sein Bild stark prägt.

2. Innere Konflikte: Fliehen oder bleiben?

Der Krieg löst bei den Menschen tiefgreifende persönliche Konflikte aus:

  • Fliehen oder bleiben?
    Viele Ukrainer:innen rechneten 2022 mit einem kurzen Krieg.
    Entscheidungen mussten oft innerhalb weniger Stunden fallen.
    Verlust von Heimat, Eigentum, Tieren, Identität – alles auf einmal.
  • Was nimmt man mit?
    Beispiel eines Musiker-Paares:
    – Die Mutter packt nur warme Kleidung und Hygieneartikel
    – Die Tochter: Wäsche + Laptop
    – Der Geiger: Geige, Ersatzkleidung – und seine Pfeifen- und Teesammlung
    → Mediationsrelevanter Punkt: Bedürfnisse sind hochgradig individuell und oft überraschend.
  • Alltagsstress als Dauerzustand
    Mehrere Luftalarme täglich
    Unterschied zwischen Drohnen- und Raketenalarm
    Übermüdung, Depression, Gereiztheit
    → Der Stress verändert Denk- und Konfliktverhalten tiefgreifend.

3. Konflikte innerhalb der Ukraine

Zwicker beschreibt mehrere zentrale Spannungsfelder:


A. „Wir sind geblieben – ihr seid gegangen“
Einer der stärksten Konflikte:

  • Rückkehrende Geflüchtete fühlen sich ausgegrenzt.
  • Zurückgebliebene fühlen sich im Stich gelassen.
  • Familien, Freundschaften und professionelle Netzwerke zerbrechen daran.


B. Militärdienstpflicht und moralischer Druck
Männer im „wehrfähigen Alter“ stehen unter massivem Erwartungsdruck.

  • Wer nicht in die Ukraine zurückkehrt, wird von vielen als Verräter gesehen.
  • Gleichzeitig haben viele Menschen berechtigte Angst oder Verantwortung für ihre Familien.


C. Konflikte rund um Kultur und Identität
Diskussion über russische Sprache, russische Musik, russische Künstler:innen

  • Beispiel: Debatte um die Umbenennung des Tschaikowski-Konservatoriums
  • Zwei Drittel der Ukrainer:innen haben Russisch als Muttersprache → persönliche Konflikte und politische Spannungsfelder über Sprachgebrauch.


D. Familienkonflikte über Propaganda
Zerwürfnisse, wenn russische Verwandte die Realität leugnen („Putin hätte euch früher befreien sollen“).


E. Hass, der an Kinder weitergegeben wird
Beispiel: Extreme Haltungen, die ganze Generationen und darüber hinaus prägen und weiter gegeben werden: „Welches Land hasst du am meisten?“
→ Langfristige Traumatisierungen und “Vererbung” von Feindbildern.

4. Konflikte im Ausland

Ukrainer in Europa erleben neue Konflikte:

  • Integration vs. Rückkehrwunsch
    Lohnt es sich, Deutsch zu lernen, wenn man „bald“ wieder zurück will?
  • Rückkehr oft erschwert durch emotionale Kälte und Ausgrenzung am Wohnort („ihr seid gegangen“).
  • Sozialleistungen & Arbeit
    Wer einmal gut verdient, verliert Grundsicherung → komplexe bürokratische Anreize.
  • Wahrnehmung durch Österreicher
    Vorurteile („die Flüchtlinge mit SUVs“) – Zwicker zeigt auf, wie falsche Bilder entstehen und wie Mediationskompetenzen helfen können, solche Denkmuster aufzubrechen.

5. Bedeutung für Mediation


Zwicker zieht klare Linien zwischen Kriegserfahrung und Mediationspraxis:


A. Konflikte werden härter und polarisierter

  • Vergleichbar mit Corona: extreme Lager, kaum Dialog
  • Weniger Bereitschaft, „dazwischen“ zu denken


B. Mediatorische Haltung wird wichtiger

  • Differenzieren statt Polarisieren
  • Strukturieren statt Vermischen
  • Zuhören statt Bewerten


C. Mediator:innen haben eine gesellschaftliche Verantwortung

  • Mediative “Begleitung” nicht nur in formalen Mediationssettings
  • Sondern im Alltag, in Gesprächen, in Social Media
    → „Wir können durch unser Kommunikationsverhalten deeskalierend wirken.“


D. Grenzen der Mediation

  • Friedensprozesse sind weit entfernt von mediierbaren Konflikten.
  • Aber: Einzelne zwischenmenschliche Konflikte (z.B. familiäre Konflikte, Integration) sind durchaus Aufgabenfelder für die Mediation.

6. Musik als Mittel der Resilienz und Gemeinschaft


Zwicker beschreibt eindrucksvoll:

  • Musik als Stärke in Kriegszeiten
    Konzerte in Luftschutzkellern
    Kultur als Identität
    Staatliche Förderung von Kultur als Kraftquelle
  • Persönliche Schlüsselmomente
    Konzert in einer Kiewer Basilika während Luftangriffen
    Jugendliche, die im Flur eines Hauses während Drohnenangriffen gemeinsam singen
    → Musik als „spiritueller Schutzraum“.
  • Sein eigenes Erleben
    Zwicker schildert, wie Musik, Gemeinschaft und Sinnstiftung seine eigene Psychohygiene stärken – trotz aller Eindrücke.

7. Schlussgedanken

  • Konflikte durchdringen Gesellschaften, Familien, Freundeskreise und Identitäten.
  • Mediator:innen können durch Haltung, Sprache und Dialogfähigkeit zur Deeskalation beitragen.
  • Gerade in polarisierten Zeiten ist die Fähigkeit, neue Perspektiven zu erkennen, zu benennen und wieder ins Gespräch zu bringen, besonders wertvoll.
  • Gleichzeitig braucht es Demut: Manche Konflikte (v.a. kriegsbedingte) sind auf absehbare Zeit nicht lösbar – aber ihre Folgekonflikte durchaus.

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